Die perfekte Kopie eines Gefühls

Denken Sie eigentlich manchmal noch bewusst darüber nach, dass jedes gute Buch, dem ein fremdsprachiges Original zugrunde liegt, genau genommen immer zwei Autoren hat ­– den Verfasser und seinen Übersetzer? 

 

Der britische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adam Thirlwell hat in diesem ZEIT-Interview die Herkulesaufgabe brillant auf den Punkt gebracht, der sich Literaturübersetzer jeden Tag stellen müssen: „Die (literarische) Übersetzung ist eine merkwürdige Kunstform, denn jeder große Roman existiert in Gestalt einer Übersetzung. (...) Wenn ich mir die Mona Lisa ansehe, ist es dieselbe, die auch ein Franzose sieht. Wenn er allerdings Madame Bovary liest, stimmt nicht ein Wort mit dem überein, was ich lese. Und trotzdem reden wir von demselben Buch.“

 

Als jemand, der sowohl in der deutschen als auch in der englischen Sprache zuhause ist, weiß ich, mit welchen Herausforderungen ein Übersetzer anspruchsvoller Texte zu kämpfen hat. Wie nah kann ich dem genauen Wortlaut des Quelltextes kommen, ohne Gefahr zu laufen, ein holprig-hölzernes Machwerk abzuliefern, das zwar inhaltlich richtig sein mag, ansonsten aber weder den Fluss oder Charme noch die Haltung oder den Witz des Originals besitzt? Andererseits: Wie weit kann ich mich um der Lesefreude willen von meiner Vorlage entfernen, ohne mir den (gerechtfertigten) Vorwurf einzuhandeln, eigenmächtig in das kreative Mark eines Werkes einzugreifen?

 

Ich rede hier wohlgemerkt nicht über die sprachliche Adaption von Gebrauchstexten, wie etwa den Content einer Website, einen PR-Artikel oder eine Produktbroschüre – obwohl mir vor allem hier immer wieder Übersetzungen unterkommen, die diese Bezeichnung einfach nicht verdienen. Ich meine damit auch nicht die rein handwerklichen Fehler in Orthografie, Interpunktion oder Topologie, mit denen sich jeder Übersetzer schon von vornherein selbst disqualifiziert. Ich spreche vielmehr von der Tatsache, dass viele Übersetzungen vor allem eines schmerzlich vermissen lassen: die Liebe zur Sprache.

 

Wie kann ich erwarten, dass mein Text idealerweise gern und vom ersten bis zum letzten Wort gelesen wird (denn nichts anderes sollte schließlich mein Maßstab sein), wenn ich dem Leser mit jeder schlampigen Formulierung und jeder sinnentleerten Phrase deutlich signalisiere, dass er mir im Grunde genommen völlig wurscht ist? Wie soll eine Zielgruppe Inhalte verdauen können, deren Verpackung so abscheulich schmeckt, dass man sie nach den ersten Sätzen am liebsten wieder ausspucken würde? Was soll für einen deutschen Leser von der assoziativen Macht eines seitenlangen inneren James Joyce-Monologs, von den kunstvoll verwobenen Erzählsträngen eines John Irving, von den brachialen sprachlichen Abgründen eines Charles Bukowski übrig bleiben, wenn ich als Übersetzer nicht zuvor komplett in ihre Werke eintauche, sie mir zu eigen mache, mich ihnen anvertraue und sie respektvoll nacherzähle – mit meinen Worten, in meiner Sprache? Ja, das ist enorm mühevoll, das bedeutet manchmal stundenlanges Brüten über einem einzigen Absatz, das verlangt eine Engelsgeduld und Leidensfähigkeit. Aber das muss mir die Knochenarbeit, die mein Kollege beim Verfassen seines Werkes bereits geleistet hat, als Übersetzer einfach wert sein.

 

Diese Professionalität und Verletzbarkeit, dieses schmerzhafte Ringen um jedes Wort – all das nötigt mir höchsten Respekt für jeden Vertreter der schreibenden Zunft ab, der sich seiner verantwortungsvollen Rolle als Bindeglied zwischen Autor und Leser bewusst ist und seine Motivation dafür mit Sicherheit nicht aus den fast schon beleidigend niedrigen Honoraren in diesem Bereich beziehen kann. 

 

Es gibt aber eine literarische Gattung, der selbst mit der brillantesten Kunstfertigkeit, der größten Mühe und dem besten Willen meist nicht beizukommen ist: die Lyrik. Was würde ich darum geben, wenn beispielsweise mein englischer Freund die Verse eines Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse oder Joseph von Eichendorff in ihrer ganzen ursprünglichen Schönheit genießen könnte? Wie gerne würde ich einmal erleben, was die Gedichte eines Fernando Pessoa, Charles Baudelaire oder Pablo Neruda in mir auslösten, würde man mir nur einmal für einige wenige Stunden das komplexe Werkzeug der Sprache zur Verfügung stellen, in der sie entstanden sind? Jeder noch so wohlgemeinte Versuch, die elementaren Bausteine eines großen lyrischen Werkes wie Versmaß, Rhythmus, Ausdruck, Tiefe zu reproduzieren, muss zwangsläufig in einem Kompromiss enden. Und jeder Kompromiss trägt ein potentiell tödliches Gift in sich, das sich letztlich gegen denjenigen richtet, der ihn aus Unsicherheit, Ignoranz oder schlicht Faulheit eingeht – das gilt nicht nur, aber ganz besonders für die Kunst.

 

Wenn Sie sich also das nächste Mal für einige kostbare Stunden in die Welt eines Paul Auster, Philip Roth, Gabriel García Márquez, José Saramago oder Albert Camus entführen oder sich von Virginia Woolf, Siri Hustvedt, Emily Brontë oder Joanne K. Rowling an die Hand nehmen lassen: Denken Sie neben aller Bewunderung für deren schöpferische Kraft immer auch an die Leistung derjenigen Menschen, die Sie genau diese Kraft in Ihrer, unserer deutschen Muttersprache so unmittelbar spüren lassen.

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